
Das da hätt' einmal fast die Welt regiert,
Die Völker wurden seiner Herr.
Jedoch ich wollte, daß ihr nicht schon triumphiert:
Der Schoß ist fruchtbar noch,
aus dem das kroch .
Bertolt Brecht, Kriegsfibel, 1955
Als der in Paris lebende siebzehnjährige polnische Jude Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in der Deutschen Botschaft auf den der NSDAP angehörenden Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath schoß und dieser am 9. November seinen Verletzungen erlag, waren die Juden in Deutschland schon weitgehend diskriminiert und aus "dem Volkskörper ausgestoßen".Grynszpans Tat, der damit gegen die Unterdrückung seiner Familie protestieren wollte, diente den Nazis als willkommener Vorwand zur völligen Verdrängung und Enteignung der Juden aus dem deutschen Wirtschafts- und Kulturleben. Dazu bemühte man die Fiktion einer jüdischen Weltverschwörung.
Man geht heute von mindestens 400 Todesopfern allein in der Pogromnacht aus. Darin sind Selbsttötungen und schwere Körperverletzungen mit Todesfolge enthalten. Nur in Nürnberg z. B. wurden schon am 9. November neun Morde, zehn Selbsttötungen und sieben plötzliche Todesfälle von Juden verzeichnet. Hinzu kam eine unbekannte Zahl von Vergewaltigungen jüdischer Frauen.
Von den in den Progromen der sogenannten "Reichskristallnacht" ca. 30.000 verhafteten und deportierten Juden wurden nachweislich 10.911 – einschließlich von etwa 4.600 Wienern – ins KZ Dachau, 9.845 ins KZ Buchenwald eingeliefert. Für das KZ Sachsenhausen schätzt man mindestens 6.000, eher aber 10.000 Inhaftierte. Die Lagerhaft kostete nochmals Hunderte Menschenleben: In Buchenwald fanden nach Angaben der Lagerverwaltung 207 Juden, in Dachau 185 den Tod, die Opferzahl von Sachsenhausen ist unbekannt. Auch hier wird zusätzlich eine hohe Dunkelziffer angenommen. Denn bereits bei der Ankunft in den KZs wurden Dutzende Juden erschossen, Hunderte starben bei Fluchtversuchen oder an den Strapazen der Zwangsarbeit in den Lagern. Tausende der Überlebenden wurden schwer körperlich verletzt – allein im Jüdischen Krankenhaus Berlin mussten später 600 erfrorene Gliedmaßen amputiert werden – und seelisch traumatisiert.
Die meisten der überlebenden Inhaftierten wurden bis August 1939 wieder entlassen, sofern sie sich schriftlich zur „Auswanderung“ bereit erklärten und ihren Besitz dem Staat übereigneten. Die Zahl der Ausreiseanträge stieg seit dem 9. November 1938 sprunghaft an: Bis Kriegsbeginn verließen noch einmal etwa 200.000 Juden das Reich, mehr als insgesamt von 1933 bis 1938. Sie mussten überall im Ausland ein „Vorzeigegeld“ nachweisen und konnten ihre Ein- und Ausreisevisa häufig nur noch über den Schwarzmarkt, durch Kredite von ausländischen Verwandten und Beamtenbestechung erlangen.
Lassen wir noch einmal Viktor Klemperer in seinem Tagebuch zu Wort kommen, den man nach den Progromen ebenfalls verhaftet hatte, der aber glücklicherweise in Dresden auf einigermaßen menschliche Polizeibeamte stieß. Trotzdem schreibt er als Schlußfolgerung über diese Tage:" Um vier stand ich wieder auf der Straße mit dem merkwürdigen Gefühl: Frei-aber bis wann? Seitdem peinigt uns beide unablässig die Frage: Gehen oder bleiben? Zu früh gehen, zu lange bleiben? Ins Nichts gehen, im Verderben bleiben? Wir bemühen uns immerfort, alle subjektiven Gefühle des Ekels, des verletzten Stolzes, alles Stimmungshafte auszuscheiden und nur die Konkreta der Situation abzuwägen.Zuletzt werden wir das Pro et Contra buchstäblich erwürfeln können.Unter dem ersten Eindruck hielten wir ein Fortmüssen für absolut notwendig und begannen mit Vorbereitungen und Erkundigungen. Ich schrieb am Tag nach der Verhaftung, am Sonnabend, 12.11., dringende SOS-Briefe an Frau Schaps und Georg. Der kurze Brief an Georg begann:"Sehr schweren Herzens, aus ganz veränderter Situation, ganz an den Rand gedrängt, ohne Details: Kannst Du für meine Frau und mich Bürgschaft leisten, kannst Du uns beiden für ein paar Monate drüben helfen?"
Aber die verzweifelten Klemperers kommen nicht mehr heraus aus Deutschland und müssen den sich täglich verschärfenden Terror bis 1945 aushalten...
Quelle: Wikipedia und Viktor Klemperer: Tagebücher 1937-1939
Foto: Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin (Martin Gapa. www.pixelio,.de)
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