"... Frau Bundeskanzlerin, es ist ja neuerdings in der deutschen Debatte
zu einem Vorwurf geworden, wenn jemand versucht, etwas zu verstehen. Ich
glaube, zumindest das kann man Ihnen, Frau Merkel, nicht vorwerfen: Sie
sind wirklich keine Versteherin weder von Russland noch von Frankreich
noch von anderen Ländern , Sie glauben offenbar eher, die Probleme von
oben herab lösen zu können.
"Wir müssen aufhören, eine hochgefährliche halbhegemoniale Stellung, in
die die Bundesrepublik wieder hineingerutscht ist, in alter deutscher
Manier rücksichtslos auszuspielen." Das schreibt Ihnen und der gesamten
Bundesregierung der Philosoph Jürgen Habermas ins Stammbuch. Er meint
damit vor allem, aber nicht nur den demütigenden Umgang mit Frankreich...
... In der Ukraine ist Europa schon gescheitert. Das Land versinkt in einem
blutigen Bürgerkrieg. Wie schön klangen doch die blumigen
Versprechungen, die Sie den Ukrainern noch vor wenigen Monaten gemacht
haben. Angeblich wollte die deutsche Regierung die Kräfte, die für
Demokratie, für Freiheit und für Europa sind, gegen jene unterstützen,
die für Oligarchie, für Armut und für Korruption stehen. Heute
unterstützen Sie eine Regierung, der vier Minister einer offen
antisemitischen und antirussischen Nazipartei angehören, eine Regierung,
die den Konflikt erst richtig angeheizt hat und heute brutal Krieg
gegen die eigene Bevölkerung führt. Sie stützen einen Präsidenten, der seine Wahlkampagne mit seinem
milliardenschweren Raubvermögen und einem eigenen Fernsehsender
betrieben hat, einen Oligarchen, der dem früheren Staatschef
Janukowitsch an Korruption, Gangstertum und krummen Geschäften in nichts
nachsteht und der übrigens auch einmal sein Minister war.
Damit es nicht zu peinlich wird, belügen Sie die Öffentlichkeit
hinsichtlich der wahren Situation in der Ukraine, zu der eben gehört,
dass schwerreiche Oligarchen wie afghanische Warlords eigene
Privatarmeen finanzieren und das Land schamlos ausplündern, während ein
Großteil der Ukrainer in drückender Armut lebt, einer Armut, die sich
infolge der jetzt dem Land von der EU und vom IWF diktierten Kürzungen
weiter verschärfen wird. Sie verschweigen, dass bewaffnete
Schlägertrupps des rechten Sektors nach wie vor auf dem Maidan
campieren, dass sich Linke in vielen Teilen der Ukraine nicht mehr ohne
Gefahr für Leib und Leben frei bewegen können und dass die Regierung
statt einer Entwaffnung dieser marodierenden Nazibanden lieber ein
Parteiverbot der Kommunistischen Partei betreibt.
Der Mord an über 40 Zivilisten in einem Gewerkschaftshaus in Odessa,
das von diesem rechten Mob angezündet wurde und in dem die Opfer
lebendig verbrannten, ist leider keine russische Propaganda, sondern
grausame Realität, eine Realität, die mit dem von Ihnen gemalten Bild einer weltoffenen proeuropäischen Ukraine nichts zu tun hat.
Ist es nicht geradezu verantwortungslos, einer Regierung, die so
offenkundig elementarste demokratische Maßstäbe verletzt, auch noch mit
Milliarden an EU-Geld unter die Arme zu greifen? Wäre es nicht sehr viel
naheliegender, sich dafür einzusetzen, dass die Raubvermögen der
Oligarchen endlich der ukrainischen Bevölkerung zurückgegeben werden? Da
liegt genug Geld, um die Finanzprobleme der Ukraine zu lösen.
Schluss mit Oligarchie und Korruption! Demokratie und bessere soziale
Absicherung: Das waren die Anliegen der ursprünglichen Maidan-Bewegung.
Sie wurden von den aktuellen Machthabern in Kiew komplett verraten auch
von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, indem Sie diese Machthaber
unterstützen.
Was für die EU gilt, das gilt genauso für die Ukraine. Nur wenn die
Menschen eine soziale Perspektive haben, wird auch das Land eine haben. Die erste Bedingung dafür ist ein Ende des Bürgerkriegs. Der neue
Präsident unternimmt noch nicht einmal den Versuch, die Lage zu
deeskalieren. Er will keine Gespräche und keine Verhandlungen, sondern
den gnadenlosen Einsatz militärischer Gewalt, obwohl jede Erfahrung
lehrt, dass es in Bürgerkriegen keine schnellen Siege gibt, sondern nur
endloses Blutvergießen.
Frau Merkel und Herr Steinmeier, wenn Sie nach all den Fehlschlägen
Ihrer Ukraine-Diplomatie zu einer verantwortungsvollen Außenpolitik
zurückkehren wollen, dann setzen Sie Poroschenko unter Druck, den Krieg
gegen die eigene Bevölkerung zu stoppen und den Weg zu Verhandlungen und einem Waffenstillstand zu eröffnen.
Dann können Sie das Putin auch glaubwürdig sagen und ihn entsprechend
unter Druck setzen.
Dazu gehört es aber eben, die legitimen Interessen aller Seiten ernst
zu nehmen. Genau das hat der Westen gegenüber Russland über Jahre
sträflich vernachlässigt. Heute sieht es doch selbst der frühere
US-Verteidigungsminister Robert Gates so, dass die NATO-Osterweiterung
ein Fehler war, ein Fehler, der - so Gates wörtlich - "die Ziele der
Allianz untergrub und das, was die Russen als ihre nationalen
Lebensinteressen betrachteten, verantwortungslos ignorierte."
Genauso verantwortungslos ist es, über Artikel 10 des
EU-Assoziierungsabkommens die Ukraine in eine gemeinsame
Verteidigungspolitik mit der EU und damit faktisch in eine Kooperation
mit der NATO einbinden zu wollen. Genauso verantwortungslos ist die
absurde Sanktionsdebatte, die das Klima weiter verschlechtert
und die das Potenzial hat, der deutschen und der europäischen
Wirtschaft massiv zu schaden, während sich US-amerikanische Gas- und
Ölkonzerne ins Fäustchen lachen. Es gibt keinen Frieden und keine Sicherheit in Europa ohne oder gegen Russland.
Es liegt deshalb in der unbedingten Verantwortung der Bundesregierung,
sich klar und entschieden gegen Obamas erschreckende Kriegsrhetorik und
die angekündigte Truppenstationierung in Osteuropa auszusprechen. Wir
brauchen keine weitere militärische Provokation.Wir brauchen auch nicht noch mehr Waffen in dieser waffenstarrenden Welt.
Wer genau 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges und nach den
Gräueln des Zweiten Weltkrieges immer noch über führbare Kriege
inmitten von Europa nachdenkt und fantasiert, der ist, muss ich sagen, krank im Kopf und der muss in die Schranken
gewiesen werden, egal ob er Obama, Rasmussen oder sonst wie heißt.
Deshalb, Frau Merkel: Lösen Sie sich endlich aus dem Schlepptau dieser US-Kriegspolitik. Setzen Sie sich - möglichst gemeinsam mit Frankreich - dafür ein, dass
Europa sich diesem Eskalationskurs verweigert.
Der französische
Historiker Emmanuel Todd hat Deutschland ein vernichtendes Zeugnis
ausgestellt. Ich zitiere ihn: "Unbewusst ... sind die Deutschen heute dabei, ihre
Katastrophen bringende Rolle für die anderen Europäer und eines Tages
auch für sich selbst wieder einzunehmen."..."
Auszüge aus einer Rede von Dr. Sahra Wagenknecht (Fraktion DIE LINKE) am 4. Juni 2014 im Deutschen Bundestag. Die teilweise völlig blödsinnigen oder senilen Zwischenrufe von CDU/CSU - und Grünen-Abgeordneten im Stile eines Marcus Lanz oder eines Kasperletheaters sind von mir gestrichen worden. Ich will mich nicht noch mehr für diese sogenannten Volksverteter schämen ...