De mortuis nihil nisi bene oder oft ungenau übersetzt: Von Toten (soll man) nur Gutes (reden). Richtig übersetzt müsste es heißen: Von den Toten nichts außer auf gute Weise, was folgende Interpretationen zulässt: a) Wenn man über einen Toten nichts Gutes zu berichten weiß, sollte man schweigen, oder: b) Man darf Verstorbene auch kritisieren, aber auf eine faire Weise (da sie sich nicht mehr verteidigen können). Insofern bemühe ich mich im folgenden, einfach fair zu bleiben:
Erich Honecker und mich bzw. den toten Erich und mich verbindet eine seltsame Geschichte, die aus heutiger Sicht vielleicht etwas makaber klingt, damals im Juni 1994 aber durchaus für Heiterkeit sorgte. Ich muss dazu sagen, dass ich dem Ete - wie wir gelernten DDR-Bürger sagten - gegenüber auch heute noch - sagen wir - ambivalente Gefühle entgegen bringe. Er war der Staatenlenker eines der drei großen Weltmächte, die mit einem "U" beginnen (USA, UdSSR und UNSERE Republik) gewesen, immer etwas zu klein für seine riesigen Gamaschen. Er regierte diesen Kleinstaat DDR von Moskaus Gnaden mehr schlecht als recht aus dem Wolkenkuckucksheim der Waldsiedlung bei Wandlitz. Für sich und seine Leute gab es vom Lebensstandard her schon den Kommunismus und trotzdem lebte er im Vergleich zu den heutigen Bonzen eher ärmlich. Seine Politbüro-Truppe fuhr mit 24 Volvos von Wandlitz nach Berlin, um die Großdemo am Republiksgeburtstag abzunehmen. Heute kommen die Reichsverweser des Kapitals gleich mit 18 Hubschraubern, jeder Einzelne natürlich. Wenn Honecker mal normales DDR-Volk sah, dann entweder aus dem Volvo-Fenster oder es war ausgesuchtes Volk. Als er einmal die 10.000ste oder 100.000ste Neubauwohnung in Berlin - Marzahn einweihen durfte und dabei die Wohnungsmieter besuchte, hatten seine Vorkoster die Kaffeemaschine, das Wasser und natürlich den Kaffee zum gemeinsamen Kaffeeklatsch mitgebracht. Seinen Beratern und Politbüro-Kollegen vertraute er wahrscheinlich blind. Dem größenwahnsinnigen Günter Mittag hatte er die Wirtschaft überlassen. Der erging sich zweimal im Jahr vor den Leipziger Frühjahrs- und Herbstmessen in übelsten persönlichen Beschimpfungen an die Adresse der Generaldirektoren der von ihm zusammengeschusterten Kombinate, weil sie den Sozialismus nicht richtig aufbauen wollten oder zu dämlich waren, die gottähnlichen Ratschlüsse des Politbüros zu verwirklichen. Ein geflügeltes Wort von damals war, dass die GD kein Gehalt, sondern Schmerzensgeld bezögen. Nebenbei bemerkt: Genau dafür hat man ihnen heute wegen Systemnähe die Rente gekürzt.
Überhaupt die Kombinate: Es ging nur groß, größer, am größesten in diesem mittelmäßigen Land DDR. Während ja ein Kombinat- also eine Gruppe von Betrieben mit ähnlichem Produktionsprofil in horizontaler oder vertikaler Arbeitsteilung unter zentraler Leitung - durchaus sinnvoll sein konnte, war die Einführung dieses konzernähnlichen Typs von Großbetrieben bei einem überwiegenden Teil der notwendig arbeitsteilig strukturierten Volkswirtschaft völliger Unsinn. Die etwa 90 Kombinate der bezirksgeleiteten Industrie waren zum Beispiel aus diesem Grund auch nichts anderes als eine Art „Sammelstelle“. In den meisten Fällen war hier nicht mal ansatzweise eine Arbeitsteilung zwischen den „eingemeindeten“ Firmen zu erkennen, in vielen Fällen gab es nicht einmal eine Kooperation zwischen diesen meist kleineren und mittelständischen Betrieben, die nirgendwohin, in kein horizontal oder vertikal gegliedertes Kombinat passten. Aber Diskussion war zwecklos, was einmal beschlossen war, wurde gnadenlos durchgezogen, ob sinnvoll oder nicht- so wie heute auch. Mittag und Ete waren unbelehrbar bis zum Schluss und meinten wirklich, mit Direktiven und Befehlen die grundlegenden ökonomischen Gesetze, die auch in einer Planwirtschaft wirkten, überlisten zu können. Für Mittag war übrigens der Kommunismus nicht nur in Wandlitz schon unmittelbare Realität. Während es allgemein üblich war, einen Brief zwischen Betrieben, Institutionen der Partei, der Wirtschaft oder den Gewerkschaften mit der Floskel „Mit sozialistischem Gruß“ zu beschließen, mussten Briefe an Mittag bei Strafe der Abkanzelung grundsätzlich „Mit kommunistischem Gruß“ unterschrieben sein. Ein anderer Traumtänzer des Politbüros um unseren Ete war Kurt Hager, ein westdeutscher wie der Saarländer Honecker, allerdings ein Schwabe. Von ihm stammt der legendäre Satz zur Perestroika Gorbatschows, dass man nicht tapezieren müsse, nur weil es der Nachbar tut. Damals als unerhört und arrogant und dumm empfunden, entpuppte sich Gorbatschow später als der, der er war - als Verräter. Der Satz Hagers ist aber auch heute noch dumm, weil er die Lage völlig verkannte und vor allem ignorierte, dass es um die innerparteiliche Demokratie in der SED sehr schlecht bestellt war. Kritik von unten nach oben war zwar laut Statut der SED erwünscht, fand aber in der Regel nicht statt bzw. wurde sofort abgebügelt und kam nie im Politbüro an. Alles in allem sorgte vor allem Propagandachef Hager dafür, dass der SED in der Endphase der DDR niemand mehr glaubte. Vor allem bei den angeblichen wirtschaftlichen Erfolgen beim Aufbau des Sozialismus hatte man sooft gelogen, dass die Menschen die Warnungen vor dem Kapitalismus und der Wiedervereinigung mit der BRD nicht mehr glauben wollten.
Den größten Fehler hatte das Politbüro allerdings schon 1976 begangen: Durch die Ausbürgerung eines kleinen, allgemein in seinem Einfluss auf die DDR-Bevölkerung überschätzten Liedermachers hatte man diesen aufgewertet, ja regelrecht aufgeblasen. Hatten ca. 98% der DDR-Bürger den kleinen Stänker bis dahin nicht gekannt, stand er durch die krasse Fehlentscheidung Honeckers und seiner Speichellecker plötzlich im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Eine Vielzahl von bedeutenden Künstlern, Ingenieuren, Ärzten und einfachen Bürgern wandten sich nun endgültig von der SED ab und verließen in Scharen die DDR.
Man muss dem Ete und seinen Mannen, darunter auch den treuen, überwiegend vernagelten hauptamtlichen Parteisekretären der SED, wohl nicht weniger als mangelnde Lernfähigkeit vorwerfen. Und da Honecker nicht abgewählt wurde, war das für die DDR fatal. In den Folgejahren wurde es ja nicht besser. Es gab genügend Hinweise, genügend Ansatzpunkte, den Sozialismus auf deutschem Boden lebendiger, lebenswerter zu gestalten, eine Alternative zu Marktwirtschaft, Militarismus und Ausbeutung aufzubauen. Honecker und Co. haben den Sozialismus auf deutschen Boden vergeigt. Wir hier im Osten löffeln heute immer noch aus, was die DDR-Bonzen mit ihrer Beratungsresistenz angefangen haben und Kohl, Treuhand, Schröder, Bundesmerkel und ihre Pudel a la Franz-Walter mit ihrer Dummheit und Arroganz immer noch vollenden.
Schluß der langen Vorrede. Es folgt eine Geschichte fern jeder „political correctness“:
Als Honecker am 29. Mai 1994 in Santiago de Chile gestorben war, befanden M. und ich uns gerade in England. Unsere Kinder hatten wir in der Obhut der Großeltern gelassen. Auf der Rückreise beschlossen wir, den Babysittern noch etwas englischen Tee mitzubringen. Im Duty free in Heathrow gab es eine schön geformte dunkelblaue Dose mit Deckel, etwa 20 cm hoch, gefüllt mit Teebeutel. Genau das, was wir suchten,l denn die englischen Teebeutel sind immer noch besser als der hier gehandelte lose Tee. Frohgemut bestiegen wir das Flugzeug nach Frankfurt am Main, denn damals flog nur Lufthansa und die ließ uns eben in Frankfurt nach Berlin umsteigen. Beim Einchecken nach Berlin legte ich die Duty free-Tüte auf das Förderband des Röntgengerätes und wurde natürlich sofort aus der Schlange gewunken. Mich ritt der Schalk, die Sicherheits-Fuzzies waren bisher einigermaßen lustig gewesen und außerdem war gerade unser Ete in Chile gestorben. Eigentlich macht man mit bundesdeutschen Beamten keine Scherze, aber ich antwortete auf die Frage, was in der dunkelblauen Büchse sei: „Die Asche von Erich Honecker!“ Totenstille. Dann kam der Einwand, die Büchse wäre zu klein. Ja, aber Ete war ja auch körperlich nicht so groß. Einer der Sicherheitsleute schlug vor, das „Lied vom kleinen Trompeter“ anzustimmen. Aber dafür war die DDR 1994 noch nicht lange genug tot. Schließlich machte ich die dunkelblaue Büchse auf, zeigte die Teebeutel vor und durfte ins Flugzeug.
Für mich selbst zog ich aus diesem kleinen, makaberen Intermezzo und der erlebten Geschichte der letzten 56 Jahre das folgende Fazit: Wer einmal miterlebt hat, wie quasi allmächtige Herren über Nacht mit Schimpf und Schande davon gejagt wurden, hat auch vor den heutigen, sich allmächtig aufführenden Bonzen dieser Welt keinen Respekt mehr. Und vor allem darf man niemals mehr resignieren und schweigen…
Foto: Gerd Altmann (
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