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Mittwoch, 5. Dezember 2012

Wo ist eigentlich Europa? (Teil 6 und Schluss)

Passend zum Thema sei auf ein Interview mit der neuen georgischen Außenministerin Maja Pandschikidse in der "Zeit" verwiesen. Pandschikidse hat von 1979 bis 1983 in Jena studiert und spricht hervorragend deutsch. In dem Interview verficht sie ein leidenschaftliches Plädoyer für den Wechsel in ihrem Land, für die Strafverfolgung der Clique um Saakaschwili und für die Einbeziehung ihres Landes in die europäische Idee. Wer Lust hat, sollte sich auch die Leserkommentare zum Interview antun: Schon lange habe ich den Eindruck, dass eine bestimmte Art meiner westdeutschen Landsleute in ihren Walddoof-Schulen oder ähnlichen Leeranstalten vor allem auf das Plappern und weniger auf das Denken getrimmt wurden. Beeindruckend ist auch immer der ausgeprägte Russenhass, denn auch wenn man den WK II nicht selbst erlebt hat, weiß man vom Großvater und seinen Heldentaten in der Waffen-SS  doch ganz genau, welche Untermenschen die Russen eigentlich sind. Die Russen- diese Bestien, die sich nicht einfach versklaven lassen wollten und tatsächlich wagten, zurück zu schießen! 

Ausgerechnet diese selbsternannten Ostblock-Experten tummeln sich sehr oft bei der "Zeit". Und so sabbeln sie hier auch wieder herum und wissen noch nicht mal, wo dieses Land  Georgien eigentlich liegt. Jedenfalls nicht in Europa - ist man felsenfest überzeugt. Und Pythagoras macht man  wahrscheinlich für den griechischen Staatsbankrott verantwortlich. 

Wobei ja alles in dieser kleinen Welt irgendwie zusammenhängt: Die hübsche Europa war ja ein antikes griechisches Mädchen. Und ihre antiken Kollegen, die Argonauten,  die sich unter ihrem Kapitän Jason auf der "Argo" einschifften, um das Goldene Vlies zu holen, waren damals auf dem Weg über das Schwarze Meer in die Kolchis - das heutige Georgien. Sicherlich haben die Argonauten auch mal am Nordufer des Schwarzen Meeres in der Gegend des heutigen Odessa angelegt:


Frühstück von 8 bis 11 Uhr (© fv 2012)
Zurück also zu Odessa und zu unserem ersten Morgen in dieser Stadt: Wir haben sehr gut geschlafen in unserem kleinen und feinen Aparthotel Amerikano in der Richeljevskaja. Frühstück gibt es in einem Boulevard-Restaurant an der Ecke Deribassowskaja. Die Deribassowskaja ist noch immer Fußgängerpromenade wie vor 33 Jahren, nach dem ersten Gouverneur der Stadt (de Ribas) benannt und immer fast überfüllt. Es ist noch schön warm hier am Schwarzen Meer und wir genießen die Sonne, die freundlichen Kellner und das üppige Essen, das dann auch fast den ganzen Tag vorhält.

Opernhaus Odessa (© fv 2012)

Danach stürmen wir zunächst den fünf Meter entfernten Pavillon, an dem Theater- und Opernkarten verkauft werden. Unser Russisch ist noch ganz gut. Wir ergattern zwei Karten für "Dornröschen" - ein Ballet von Pjotr Iljitsch Tschaikowski in der Original-Choreografie von Marius Petipa. Der war am Ausgang des 19. Jahrhunderts ein berühmter  französisch-russischer Balletttänzer und Choreograf in St. Petersburg . Er gilt als Vater des klassischen Balletts und kombinierte  französische und italienische Einflüsse mit dem russischen Ballett. Die beiden Karten kosten zusammen umgerechnet 20 Euro, das Gebäude der Oper inklusive Treppenhaus und Zuschauersaal  ist ein Traum und noch mehr ist es die Aufführung. Ein Märchen wird für uns wahr.

Rekonstruktion der Gründerzeitfassaden (© fv 2012)
Auch die  Gründerzeitfassaden der Stadt kommen uns wie ein Märchen vor. Noch vor kurzem haben wir im "Spiegel" von den bröckelnden Fassaden in Odessa gelesen. Aber natürlich dürfen deutsche Medien nichts Positives  in der Ukraine finden - wenn die Gasprinzessin Timoschenko in ihrem Kerker quasi vor sich hin fault. Allerdings hält sich das Mitleid der Odessiten mit Frau Timoschenko offensichtlich in engen Grenzen. Wir finden stilvoll restaurierte Fassaden, eingerüstete Häuser und natürlich noch eine Menge Arbeit.

Gründerzeitfassade (© fv 2012)


Odessa steht auf Muschelkalk und Sandstein. Auf Anregung Richelieus wurde beides in der Gründerphase der Stadt als Baustoff verwendet. Er kannte diese Verfahrensweise aus seiner Heimatstadt Paris und ebenso wie in Paris entstanden auch in Odessa ausgedehnte unterirdische Höhlen. Dieses Höhlensystem ist 2500 km lang. In der Revolution und zu Zeiten des Bürgerkrieges dienten sie wahlweise als Unterschlupf für Revolutionäre, Konterrevolutionäre oder Banditen. Im Großen Vaterländischen Krieg waren die Katakomben Stützpunkt der Partisanen, die gegen die deutschen und rumänischen Besatzer kämpften. Heute sorgen die Hohlräume und Tunnel für unerwartete Bewegungen auf den Straßen und Gehwegen: Beides ist in einem erbarmungswürdigen Zustand, es gibt hier sogar größere Schlaglöcher als in Berlin . Und das will etwas heißen !

Wahlflyer der Partei UDAR
Das nautische Museum - hier konnte man schon vor 36 Jahren auf eine virtuellen Kommandobrücke den Hafen Odessas bei Nacht ansteuern- wird gerade restauriert, gegenüber wohnt der deutsche Honorarkonsul. Wir flanieren den Primorski Boulevard entlang, bestaunen den Stadtsowjet mit der großen Kanone und dem Puschkin-Denkmal, setzen uns auf eine der Bänke und machen "Leute bekieken" . In den nächsten Tagen werden wir jeden Abend hier sitzen,  am Tage die Sehenswürdigkeiten der Stadt anschauen und unsere Hausaufgaben über die Ukraine und diese schöne Stadt machen. .Wir entdecken die wunderschöne Hauptpost, Einkaufspassagen, die Gemäldegalerien mit vier von Ilja Repins Gemälden und künstlerischen Einblicken in das Leben in Neurussland im frühen 19. Jahrhundert. Wir sprechen mit Wahlkampfhelfern aller möglichen Parteien und besuchen eine gigantische Wahlkampfveranstaltung der neuen Partei "UDAR" (dt.: Der Schlag) des Boxweltmeisters Vitali Klitschko. Als ich in einer ruhigen Straße eine Zettelkleberin von UDAR auf Russisch anspreche, zuckt diese zusammen. Es scheint doch eine gewisse Präsenz der Geheimpolizei zu geben. Dabei möchte ich nur ein Wahlplakat Klitschkos mitnehmen, so kann ich die Frau beruhigen. Beim Wahlkampfauftritt Klitschkos einige Tage später am Richelieu-Denkmal ist nicht mehr Polizei zu sehen als in Deutschland bei vergleichbaren Großdemonstrationen.

Das wird halten ! (© fv 2012) 
Am interessantesten sind die Menschen: Dort die schöne, hoch gewachsene Krimtatarin, die mit Aktentasche zu ihrem Arbeitsplatz in einer großen Bank eilt. Die Großmutter, die uns nach dem Weg fragt, sich über unser Russisch freut und uns dann nach dem Woher und Wohin fragt. Die junge Mutter mit dem kleinen Mädchen am  Strand, die sich mit einer älteren Frau befreundet, als deren etwa vierjähriger  Enkel das kleine Mädchen formvollendet gentlemen-like fragt, ob es mit ihm spielen möchte. Die müde Kellnerin, der sichtlich die Füße weh tun, die aber trotzdem über einen kleinen Scherz lächeln kann. Die hübsche Braut, die ein Vorhängeschloss an einem eigens errichteten Herzen aus verzinkten Stahldraht befestigt - so wie bereits hunderte Bräute vor ihr. Aljona und Anastasia, die Schwestern sein könnten und in 12-Stunden-Schichten so überaus kompetent die Rezeption in unserem Hotel betreuen. Der Wachmann im Einkaufszentrum, der gleich Englisch mit uns spricht.  Die irische Folkband vor dem Irish Pub in der Deribassowskaja, die meinen Musikwunsch sofort und ohne Noten erfüllt und deren  Geigerin so temperamentvoll loslegt, dass einige Bogensaiten reißen.

As I was goin' over the far famed Kerry mountains,
I met with Captain Farrell, and his money he was counting.
I first produced me pistol and I then produced me rapier,
Saying: "Stand and deliver, for you are a bold deceiver!".
Musha rin du-rum do du-rum da, Whack for my daddy-o,
Whack for my daddy-o,
There's whiskey in the jar.

KaffeeMobil a la Italiano (© fv 2012)
Sie sind perfekt. In der Pause bedanke ich mich für das Lied, sie bedanken sich lachend für meinen Musikwunsch und ebenso lachend beenden sie mein Rätselraten um ihre Herkunft (County Cork? Donegal? Dublin?) mit der Angabe: Odessa. 

Wir essen Lebensmittel, die noch nicht perfekt von internationalen Lebensmittelkonzernen gestylt daher kommen und in ganz (West-) Europa gleich schmecken. Wir trinken richtigen bessarabischen Kwass und besten Coffee-to-go aus Kaffeemobilen. Wir sehen in der einen Woche zwei riesigen Kreuzfahrtschiffen beim Anlegen am "Meeresbahnhof" (Morski Woksal) zu und beschließen, nie einen Fuß auf das Deck einer dieser schwimmenden Kleinstädte mit drei- bis fünftausend Passagieren zu setzen. Wir baden im Schwarzen Meer und genießen die letzten Strahlen der Septembersonne.

Kreuzfahrtschiff am Morski Woksal ( © mv 2012)
Am Denkmal für den unbekannten Matrosen im Schewtschenko-Park sehen wir, wie die Ukraine auch 70 Jahre nach dem Großen Vaterländischen Krieg der Gefallenen und Opfer gedenkt. Odessa war von 1941 bis 1944 von rumänischen und deutschen Truppen besetzt. "Während der Besatzungszeit wurden etwa 60.000 Einwohner ermordet oder deportiert, die meisten waren Juden. Besonders die Massaker vom 23. bis zum 25. Oktober 1941 bleiben in Erinnerung. Bei einer Explosion im rumänischen Hauptquartier in Odessa starben insgesamt 61 Personen, einschließlich des rumänischen Generals Glogojeanu. Ministerpräsident Ion Antonescu gab daraufhin den Befehl, als Vergeltung für jeden getöteten Offizier 200 und für jeden Soldaten 100 Juden oder Kommunisten zu töten. Daraus entwickelte sich ein Massaker, bei dem etwa 30.000 Juden getötet wurden." schreibt Wikipedia über diese Zeit

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Heldengedenken (© fv 2012)
An einem ganzen Nachmittag informieren wir uns im seit 1993 ortsansässigen Bayerischen Haus über die aktuelle politische Situation, die soziale Lage, die Möglichkeiten für wirtschaftliches Engagement, die Tätigkeit des Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsclubs und das Wirken des Bayerischen Hauses bei der HIV-Prävention im Oblast Odessa. Herr Walter, der Chef des Bayerischen Hauses, entpuppt sich als ehemaliger Stadtverordneter der Freien Wähler aus Franken. Er nimmt sich besonders viel Zeit für uns und gewährt uns Insider- Einblicke. Nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation hat Odessa mit ca. 160.000 HIV-infizierten Einwohnern (16 % der Gesamtbevölkerung) europaweit die höchste HIV-Infektionsrate. Hier bereits an den Schulen intensive Aufklärung vor allem bei den Lehrern zu leisten, hat sich das Bayerische Haus auf die Fahnen geschrieben. Hilfe zur Selbsthilfe ist die Devise. So half man gerade erst beim Aufbau einfacher Methoden der Telemedizin im gesamten Oblast (Bezirk) Odessa über den Internet-Telefondienst Skype, der die Möglichkeit der Bildtelefonie und in  Verbindung mit zentralen Laborkapazitäten eine effiziente Form der schnellen Ferndiagnose von HIV-Infektionen bietet. Das Bayerische Haus finanziert sich inzwischen ausschließlich aus Spenden bzw. erwirtschaftet sein Budget mit Deutsch- und Russischkursen, die bayerische Regierung hat ihre Zuschüsse komplett gestrichen.

Konditorei in der Deribassowkskaja (© mv 2012)
So vergeht die Zeit wie im Fluge. Glücklicherweise habe ich schon auf dem Flughafen in Kiew angefangen, meine Eindrücke im Reisetagebuch festzuhalten. Es werden immer mehr. Allerdings ist unser letzter Tag in Odessa schneller da als gedacht. Am frühen Nachmittag haben wir einen Tisch im "Salieri" , einem Restaurant an der Oper, reserviert. Dort, auf  einem malerischen, mit schönen Platanen bewachsenen Innenhof an einem Springbrunnen, feiern M. und ich mit gutem Essen, georgischem Rotwein und georgischem Mineralwasser meinen sechzigsten Geburtstag. Am nächsten Morgen um 6 Uhr geht es über Kiew wieder heim. 

Wir werden wiederkommen, denn wir haben Europa gefunden. Es ist hier. Und in Kiew. In Athen, Paris, Warschau, Berlin, Madrid, Rom oder Lissabon, in Moskau, Wien, Kopenhagen, Helsinki, Oslo und  St.Petersburg. Auch in London und Stockholm. Zweifellos auch in Tbilissi. In den Brüsseler Amtstuben und in den Gehirnen der Verfechter dieser  selbsternannten Alleinvertretung namens "Europa", die ausschließlich für die Banken und Konzerne geschaffen wurde,  ist es allerdings nicht...


1 Kommentar:

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Wir sind noch lange nicht am Ende, wir fangen ja gerade erst an...