
Wenigstens einmal im Jahr gönne ich mir neben Ausstellungs-und Vortragsbesuchen bei Ärztekongressen eine Veranstaltung zur Gesundheitspolitik. Das gehört einfach zur Weiterbildung, wenn man im weitgefächerten Feld der Medizintechnik tätig ist. Gestern ergab sich wieder einmal die Gelegenheit, etwas zu Innovationen in der Medizintechnik und den Regulierungsinstrumenten, die sich mit dem Einsatz und der Vergütung des finanziellen Aufwandes beschäftigen, zu hören. Also drückte ich mein zartes Gesäß auf einen harten Uni-Stuhl im Hörsaal 2028 der TU Berlin und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Um es vorweg zu sagen: Mich als gelernten Technologen und ehemaligem Haupttechnologen störte vor allem die ständige Vermengung der Begriffe "Technik" und "Technologie". Unsere Marketinggenies orientieren sich offensichtlich am englischen "technology", der "Technik" oder auch "Technologie" heißen kann. Im Deutschen besteht zwischen beiden Begriffen ein gewaltiger Unterschied, der leider auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch immer mehr verwässert wird. So bekam ich bei den Referaten des öfteren eine Gänsehaut.
Ich will die Vorträge hier nicht werten, die Wichtigkeit und Komplexität des Themas und vor allem die ständigen politisch-verworrenen Regulierungsexzesse rechtfertigten fast jeden Versuch eines Lösungsansatzes. Es wurden viele Probleme angesprochen. Man weiß, wo es hapert,ist aber gedanklich erst am Anfang und ich will nur hoffen, dass die Politik gut zugehört hat.
Die deutsche Medizintechnik-Industrie besteht aus etwa 11.000 Unternehmen mit mehr als 170.000 Arbeitnehmern und macht etwa pro Jahr 22 Milliarden Euro Umsatz. Wir alle sind mit den Produkten dieses Industriezweiges vertraut, sei es, dass man bei einem Knochenbruch mal eine simple Schiene angepasst bekam oder bei einer Katarakt-OP eine Kunstlinse eingesetzt wurde.Aber auch CT- oder Röntgengeräte gehören zur Produktpalette dieses Industriezweiges und spätestens hier wird klar,dass der wissenschaftliche Fortschritt seinen Preis hat. Und spätestens hier stießen die Referenten der gestrigen Veranstaltungen an ihre erkenntnistheoretischen Schranken. Kein Wissenschaftler, Manager, Lobbyist oder Marketingstratege dieses Wirtschaftszweiges kommt gedanklich über eine gewisse Barriere, die aus dem nicht einfachen Widerspruch zwischen
1. dem staatlich gelenkten und überwiegend beitragsfinanzierten Sektor der Verwaltung des deutschen Gesundheitssystems mit seiner starken finanziellen Reglementierung, der daraus vor allem resultierenden Rationierung von Gesundheitsleistungen, verbunden mit einer überbordenden Bürokratie auf der einen Seite und
2. auf der anderen Seite einem starken Industriezweig, der potenziell hochinnovativ ist, mit hochinnovativen Produkten auf den deutschen und internationalen Markt will und dazu in Forschung und Entwicklung investieren, aber vor allem Profit machen muss,
besteht.
Ein Beispiel: Faltbare Intraokularlinsen gehören heute zum Standard der Operation des Grauen Stars. Sie wurden vor etwa 20 Jahren in die Praxis eingeführt. Vorher benutzte man starre Linsen aus PMMA. Ich wage die These, dass faltbare Linsen unter den Bedingungen des heutigen Gesundheitssystems niemals eingeführt worden wären und Plexiglas (PMMA) noch heute den Standard darstellen würde. Man müsste noch heute das Auge zur Hälfte aufschneiden und die natürliche, aber trübe Linse mittels Spatel entfernen, denn die Krankenkassen würden argumentieren, dass die PMMA-Linse ja "den Zweck erfüllt". Der Patient kann nach der OP sehen. Faltbare Linsen sind teurer, das OP-Verfahren ist zwar schonender, aber von der Gerätetechnik her aufwändiger und natürlich damit ebenfalls teurer. Der ökonomische Nutzen dieses "Neuen" wäre - bei allem medizinischen Fortschritt- nicht vorhanden. Abgelehnt und ab in die Kiste der nutzlosen Erfindungen der Menschheit. Gottseidank kamen die Faltlinsen etwa 15 Jahre früher als Ulla Schmidt.
Reglementierung, Regulierung und Rationierung haben noch etwas Negatives an sich: Mangel - in diesem Fall von Geld - führt immer zur Notwendigkeit der Mangelverwaltung und damit wie oben genannt zur Bürokratie. Die Entwicklungen der Bürokratie verselbstständigt sich, die Bürokratie verschlingt einen Großteil der Zeit der Beteiligten und des Geldes, das man mit ihr eigentlich einsparen will. Im konkreten Fall hat man eben über 200 Krankenkassen, kassenärztliche Vereinigungen in - zig Unterbezirken, Dutzende Standesvertretungen für Ärzte und neuerdings auch noch die Verwaltung des Gesundheitsfonds. Man schätzt heute ein, dass der behandelnde Arzt 70 Prozent seiner Zeit nur damit verbringt, die medizinische oder ökonomische Bürokratie zu befriedigen. Das Geld wird dadurch noch knapper. Bürokratie führt damit zur Verstärkung des Mangels und letzten Endes mündet die gesamte Entwicklung darin,dass für den gesetzlich Versicherten nicht mehr alles geleistet wird, was machbar wäre, auch bei Standardleistungen der Krankenkassen eine Rationierung der Versorgung stattfindet oder man sich als gesetzlich Versicherter mit veralteten Standards zufrieden geben muss. Da Bürokratie immer auch auf starren Verhaltensmaßregeln für die Bürokraten beruht, werden Zuzahlungen von gesetzlich Versicherten für den Einsatz von Innovationen zwar punktuell gestattet, aber bei einer Vielzahl von innovativen Produkten strikt abgeschmettert. Denn so etwas sehen die bürokratischen Regeln nicht oder nur in Ausnahmefällen vor. Soweit zu den Auswirkungen dieses Prozesses auf den Kunden,d.h. auf Arzt und Patient.
Für die Medizintechnik-Industrie wirkt sich der oben dargestellte Prozess in vielerlei Hinsicht negativ aus:
1. Die Einführung von Innovationen in der medizinischen Praxis muss ständig aufwändiger begründet werden.
2. Kleine und mittelständische Firmen können sich die Entwicklung und Einführung von innovativen Produkten nicht mehr leisten, da der bürokratische Aufwand ihre finanziellen und organisatorischen Mittel in der Regel weit übersteigt.
3. Der deutsche Medizintechik-Markt wird daher bereits heute von multinationalen, meist US-amerikanischen Konzernen dominiert, die auch die Preise bestimmen.
4. Der überwiegende Teil der medizintechnischen Innovationen kommt deshalb nicht mehr aus Deutschland.
5. Aufgrund der im Vergleich zur EU wesentlich regideren Vorschriften der US-amerikanischen FDA für die Einführung von neuen Medizinprodukten wird der deutsche und europäische Markt zunehmend zum Experimentierfeld, d.h. Feldstudien und damit beabsichtigte Markteinführungen (leider auch von unausgereiften Produkten) finden vor allem hier statt.
Wie kann dieser insgesamt unbefriedigende Zustand verändert werden? Leider konnte auch der gestrige Workshop darauf keine befriedigenden Antworten geben. Zwar versucht man offensichtlich, über eine Analyse der unterschiedlichen Erstattungssysteme in der EU zu Ansatzpunkten einer Lösung zu kommen. Ob die vorgeschlagene Experimentier-und Evaluationsklausel der Gesetzlichen Krankenversicherung eine Lösung weg von der ausufernden Bürokratie und hin zu mehr fairen Wettbewerb in der Industrie und damit zu medizinischen und ökonomischen Vorteilen aller Beteiligten führt, wage ich zu bezweifeln. Meines Erachtens sollte der weitere Schwerpunkt einer sozialökonomischen Forschung an den Schnittstellen zwischen staatlich organisiertem und beitragsfinanziertem Gesundheitssystem und den privatwirtschaftlich organisierten Zulieferern dieses Gesundheitssystem liegen. Die Alternativen hießen sonst absoluter Gesundheitsmarkt (wie in den USA und Canada) oder absolute Mangelversorgung a la
Phillip Mißfelder. Und beides sind keine Alternativen...
Das Foto zeigt eine implantierte faltbare Intraokularlinse im Auge (Leo Tscherniakow, 1999)