Von Philipp Demandt
Im Juli 1810 starb Luise, die Königin von Preußen. Vier Jahre zuvor war das Land Napoleon unterlegen, auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen und moralischen Misere verlor Preußen die schöne Landesmutter, die heldenhafte Lichtgestalt. Doch kein Tod ohne Leben: Im Mythos wurde Luise wiedergeboren, wurde zur Losung in den Befreiungskriegen, wurde zur Mutter der deutschen Nation
|
Ich bin wie vom Blitz getroffen", schrieb General Blücher auf die Todesnachricht und setzte resigniert hinzu: „Es ist doch unmöglich, dass einen Staat soviel aufeinander folgendes Unglück treffen kann." Längst nämlich wähnten sich die Preußen auf dem Tiefpunkt ihrer Geschichte. Der frühe Tod der Königin Luise im Juli 1810 belehrte sie eines Besseren. Die Niederlage gegen Napoleon 1806, die überstürzte Flucht der Königsfamilie nach Ostpreußen und das Friedensdiktat von Tilsit hatten das Land schwer getroffen. Preußen verlor die Hälfte seines Staatsgebietes wie seiner Bewohner, tagelang hing seine Existenz als souveräner Staat am seidenen Faden.
Als die Hoffnung auf einen milden Frieden schwand, ließ sich die Königin zu einem Bittgang zu Napoleon überreden. Dabei war der Hass der beiden aufeinander legendär: Eine „blutrünstige Amazone" hatte der Korse seine „größte Feindin" öffentlich genannt. Und diese sparte nicht mit Widerworten: Bonaparte, der „sich aus dem Kot emporgeschwungen" hatte, war der „Teufel in Menschengestalt". Zwar änderten beide ihre Meinung, als sie sich in Tilsit gegenüberstanden - sie bewunderte sein Cäsarenhaupt, er nannte sie eine Frau „von Geist und Haltung" -, dennoch fanden die Bitten der Königin kein Gehör.
Das Gespräch endete jäh, als Friedrich Wilhelm III. in das Zimmer stürmte; zu lange war seine Frau mit Preußens Erzfeind schon allein gewesen. „Der König kam zur rechten Zeit", erzählte Napoleon nachher. „Wäre er eine Viertelstunde später hereingekommen, so hätte ich der Königin alles versprochen." Friedrich Wilhelm ging als Trottel in die Geschichte ein. Seine Frau hingegen wurde zur Symbolfigur des deutschen Durchhaltewillens noch im Angesicht der größten Schmach. Als solche sollte sie noch Joseph Goebbels im Jahr 1945 vor das Volk treten lassen.
Seit ihrer Ankunft in Berlin 1793 war die schöne Mecklenburgerin enorm beliebt. Vor allem die Männerwelt lag ihr zu Füssen. Dichter wie Diplomaten berauschten sich an ihrem Anblick, und bei Staatsbanketten wurde Luise mitunter so unnachsichtig angestarrt, dass ihr der Appetit verging. Schuld daran war aber nicht zuletzt sie selbst, ging sie doch in der „griechischen Mode" voran: Weit ausgeschnittene, hauchdünne Gewänder, die den „vollen Spielraum der Bewunderung" ermöglichten, machten sie zur erotischen Idealgestalt ihrer Epoche. Wenngleich manche Zeitgenossen die Stirn in Falten legten: „Ich kann nicht begreifen, wie der König seiner koketten Frau erlauben kann, sich so anzuziehen", schrieb etwa die Gräfin Brühl. Deutlichere Worte fand 1929 Marie von Bunsen in Erinnerung an die wilhelminische Ära: „So hüllenlos wie Königin Luise, das hätten in meiner Zeit nur Kokotten getan."
Luises Volksnähe, ihr ungekünsteltes Verhalten und ihre für den Adel ungewöhnliche Liebesheirat hatten ihr die Sympathien des Bürgertums gebracht, das seine Lebensweise in ihr verkörpert glaubte. Wie anders sah dagegen das Leben am Hof des Schwiegervaters aus, Friedrich Wilhelms II., des „dicken Lüderjahns", wie ihn der Volksmund nannte. „Ganz Potsdam war wie ein Bordell", erinnerte sich der Bildhauer Schadow. Die Verklärung der jungen Königin, 1797 auf den Thron gestiegen, besaß darum von Anfang äh politische Bedeutung. Luise wurde zum Inbegriff der „neuen Frau", der treuen, häuslichen und zärtlichen Mutter, was ihre Rolle als Mittlerin zwischen Bürgertum und Krone noch stärkte. Jede Frau und Mutter solle ein Bild der Königin in ihrem Zimmer haben, begeisterte sich Novalis, und die Schriftstellerin Maria Mnioch hoffte, solche „Madonnenbilder" könnten die „blöden Gemüter" des Adels heilen. So war es vor allem die Lebensweise, die das Königspaar zur politischen Führung legitimierte. Ein Herrscherpaar, das nach den Maximen des Bürgertums lebte, konnte diesem kein Gegner im Kampf um Freiheit und politische Rechte sein, sondern wies in eine gemeinsame, bürgerliche Zukunft.
Wie so oft aber war das Wunschdenken mächtiger als die Wirklichkeit. Vergessen war, dass Luise zur Verschwendung neigte und Friedrich Wilhelm nur den Bürger mimte, weil ihm seine Königswürde eine Bürde war. Was machte es, dass König und Königin im absolutistischen Denken gefangen blieben, die zelebrierte Natürlichkeit im Zeitalter der Empfindsamkeit auch eine Bewegung des Adels war und Luise von Eingeweihten zwiespältig beurteilt wurde? „Sie ist keine edle Frau", schrieb der Freiherr vom Stein. Er fand sie oberflächlich und gefallsüchtig, während Gneisenau sie auch in ihrer Rolle als Mutter „nicht achtungswürdig" nannte. „Selbst ihr Herz war ihrem Gemahl nicht immer zugewandt", schrieb der Feldmarschall, schließlich war die Vernarrtheit der Königin in den russischen Zaren am Hof bekannt. Kritik wie diese aber blieb der Öffentlichkeit verborgen und konnte darum das ideale Bild der Königin nicht trüben. Ihre Kinder dankten ihr die zwanglose Erziehung mit inniger Liebe. Und während Frankreich unter den Nachwehen der Revolution zu leiden hatte, verkörperte Luise in Preußen die Hoffnung auf Erneuerung der Monarchie auf gewaltlosem Wege.
Die Königin wurde um so wichtiger, als sich nach 1806 das Bedürfnis nach einer moralischen Instanz ganz und gar auf sie richtete. Die Niederlage gegen Napoleon hatte zahlreiche Missstände offenbart: Die Organisation des Militärs war veraltet, die Bindung des Volkes an den Staat gering, die Kabinettsregierung schwerfällig und der König unfähig, den Problemen seiner Zeit angemessen zu begegnen. Während sich Friedrich Wilhelm mit dem Gedanken trug, auf den Thron zu verzichten, zeigte seine Gattin Pragmatismus. „Man sieht sie einen wahrhaft königlichen Charakter entwickeln", schrieb Heinrich von Kleist. Historisch korrekt setzte Theodor. Mommsen 1876 hinzu, Luise habe wie viele Frauen im Unglück eine Stärke offenbart, die Männer für gewöhnlich in der Not verlören.
Zwei Männer hielten jedoch der Belastung stand, Männer, auf die Luise große Hoffnung setzte: die Staatsreformer Stein und Hardenberg, die das Fundament des modernen Preußens legten. Während sich Stein durch seine schroffe Art die Königin im Lauf der Zeit zur Feindin machte, konnte Hardenberg auf ihre beständige Unterstützung zählen. Seine Berufung zum Staatskanzler 1810 war Luises Werk. Zahlreiche Neuerungen wie die allgemeine Wehrpflicht und die Gewerbefreiheit, die Emanzipation der Juden, die Befreiung der Bauern und die Städteordnung sollten die Identifikation der Bürger mit den Belangen des Staates stärken. Das revolutionäre Frankreich hatte als Vorbild gezeigt, welche Kräfte eine von Verfassung und Zivilgesetzbuch geschützte Nation besaß, und zugleich als Feindbild ein neues Gemeinschaftsgefühl im Kampf gegen die Besatzer erzeugt. Nun galt es, die Errungenschaften der Revolution zu verwirklichen, ohne den absoluten Machtanspruch' der preußischen Monarchie zu schmälern. |
All das war um so dringlicher, als „Nation" und ,Vaterland" zu Losungsworten der Besatzungszeit geworden waren. Überall im Land wurden Tugendbünde gegründet, um die patriotische Gesinnung zu stärken. Der moderne Nationalismus war entstanden, aufgeklärt und idealistisch auf der einen Seite, hasserfüllt und aggressiv auf der anderen, in beidem jedoch ein Appell an Deutschlands Bürger, ihr politisches Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Hatte Hegel 1802 noch die „politische Nullität" des bürgerlichen Standes gerügt, so gründeten Bürger nun soziale Stiftungen, von denen einige Luises Namen trugen.
Die „Geburt der deutschen Nation" heißt diese Zeit in den Geschichtsbüchern, eine Zeit, die das Bild des Staatsbürgers bis heute prägt, eine Zeit, in der die Königin von Preußen plötzlich stirbt.
Luises Tod am 19. Juli 1810 war für Preußen ein Schock. Auf dem Tiefpunkt der wirtschaftlichen und moralischen Misere stirbt die einzige Lichtgestalt, erst Monate zuvor aus dem Exil zurückgekehrt. Schreckliche Szenen spielten sich an ihrem Sterbelager ab. Der König, die beiden ältesten Söhne, die Schwester Friederike, der Vater und sogar die Großmutter waren zugegen, als Luise im Schloss von Hohenzieritz, dem Landsitz ihres Vaters, nach tagelangem Todeskampf einem Lungenleiden erlag, 34 Jahre alt. „Sie ist mein Alles!" hatte ihr Mann zuvor geschrieben. „Wenn wir nur beisammen bleiben, dann ergehe über uns was Gottes Wille ist. Amen! Amen! Amen!" Als ihn die Ärzte drängten, ihr die Nachricht von der Unausweichlichkeit des nahen Todes zu überbringen, und er darüber die Fassung verlor, war sie es, die ihn stützte. Es könne nicht Gottes Wille sein, dass sie von ihm gehe, sagte Friedrich Wilhelm zu ihr am Sterbebett, da doch nur sie sein Freund auf Erden sei. „Und Hardenberg", fiel Luise ihm ins Wort. Sie wahrte Haltung bis zum Ende.
Wenige Wochen später warfen die Druckerpressen das erste Bild der Sterbeszene aus. Die Darstellung bediente das Verlangen nach einem Mythos, denn sie entsprach der bürgerlichen Vorstellung vom schönen Tod: Abschied nehmend von der Familie, die Kinder segnend, starb die Königin den Tod der tugendhaften Christin. Ihrem „bürgerlichen" Leben folgte ein ebensolcher Tod.
Als der Leichenzug Berlin erreichte, wurde er am Brandenburger Tor von einer gewaltigen Menge empfangen. Es herrschte eine Stille, „die man sich kaum vorstellt", berichtete Wilhelm von Humboldt. Zum großen Bedauern des Publikums aber hatte die Sommerhitze dem Leichnam so zugesetzt, dass man ihn nicht mehr zeigen konnte. Dennoch gab es im Stadtschloss die Gelegenheit, drei Tage lang an dem Sarg vorbeizudefilieren.
Mythen sollen historischen Ereignissen Sinn verleihen, und es dauerte nur Tage, bis die kollektive Suche nach einem Sinn in Luises Tragödie am Ziel war: „Man hörte aus dem Munde sonst ruhiger Bürger die fürchterlichsten Verwünschungen gegen den verhassten Usurpator ausstoßen, der mit kaltem Hohn das Herz der Königin zum Tode verwundet hatte", schrieb die „Vossische Zeitung" später. Als bekannt wurde, dass die Obduktion einen organischen Herzfehler zutage gebracht hatte, war der Beweis dafür erbracht, was jedes preußische Schulkind bis 1945 lernen sollte: dass die Königin Luise am gebrochenen Herzen gestorben war, aus Gram über ihr geschundenes Vaterland. Das Wissen von der Gefährdung ihrer Gesundheit nach zehn Schwangerschaften binnen anderthalb Jahrzehnten wich dem Glauben an ihren Märtyrertod. Die mehr als ein Jahrhundert währende Erbfeindschaft mit Frankreich war besiegelt und das für den Nationalismus grundlegende Feindbild ausgemacht, definierten sich doch nahezu alle europäischen Nationen des 19. Jahrhunderts durch den Gegensatz zu ihren Nachbarn. „Louise sei das Losungswort zur Rache!" rief Theodor Körner, der Heldendichter der Befreiungskriege, und so war und blieb der Tod der Königin „ein Mord, begangen durch die französische Nation", wie man noch 1892 bei Hermann Maertens lesen konnte: „Ihn zu rächen wurde unserer Nation zur heiligen Pflicht. Diese Anschauung ist bis heute eine Erbschaft Preußens geblieben."
Die deutschnationale Sammlung um die Bahre der „echt deutschen Frau" entsprach jedoch nur bedingt den Interessen der preußischen Monarchie. Zu oft vernahm man den Ruf nach dem „Schutzgeist deutscher Sache", als welcher Luise weiterlebte. In der offiziellen Verlautbarung auf ihren Tod mahnte denn auch der Hofprediger Sack das Volk zur bedingungslosen Treue zum vereinsamten Preußenkönig und versicherte, dass es nur natürlich sei, wenn sich nach dem Tod der Landesmutter die Hinterbliebenen dem „doppelt teuren Vater" anschlössen. Die tote Königin wurde zur politischen Herrschaftsressource. Und in der Tat gab der scheue, linkische König in der Realität wie in der Phantasie der Menschen ein so erschütterndes Bild ab, dass er dem Volk sympathisch wurde. Er war der „trauernde Ritter, der seine verlorne Geliebte nimmer vergessen konnte", schrieb Ernst Moritz Arndt, der im Witwer ein poetisches Ideal erblickte. „Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet", erklärte Gneisenau 1811 dem König. Drei Jahrzehnte später schrieb Edgar Allan Poe: „Der Tod einer schönen Frau ist ohne Zweifel das poetischste Thema der Welt." Als 1813 die Befreiungskriege begannen, stiftete Friedrich Wilhelm am Geburtstag seiner verstorbenen Frau ihr zu Ehren einen Kriegsorden. Er wurde erstmals unabhängig von Stand und Rang verliehen und ist noch heute das Hoheitsabzeichen der Bundeswehr: das Eiserne Kreuz. Die Karriere seiner Frau als deutsche Einigungsfigur hat er damit ungewollt befördert, hatte doch die Nationalbewegung erheblich dazu beigetragen, die Begeisterung jener Tage zu schüren. Als unter dem Zeichen des Kreuzes ein Sieg dem anderen folgte, galt das als Beweis für Luises Fortwirken im Himmel. „Wie der Engel mit dem Flammenschwert", so Mommsen, war sie den Heerscharen vorangezogen.
Entgegen der Tradition der Hohenzollernfamilie hatte Friedrich Wilhelm seine Frau nicht im Berliner Dom bestatten, sondern ihr ein Mausoleum im Charlottenburger Schlosspark bauen lassen. Für den Innenraum schuf Christian Daniel Rauch eine Sarkophagfigur. Sie wurde ein Meilenstein des Klassizismus und der Grundstein für Rauchs Aufstieg zum erfolgreichsten deutschen Bildhauer seines Jahrhunderts. Just am 30. Mai 1815, dem Tag, da der König vom Wiener Kongress zurückkehrte, war das Denkmal in Charlottenburg vollendet. Konnte das ein Zufall sein? Sofort nach seiner Ankunft begab sich der König mit seinen Kindern in den Tempel. Da lag Luise in der Blüte ihrer Jahre. Eine antike Göttin, wie schlafend, in einem Gewand so dünn, dass sie fast wie nackt erschien. Das Bildnis einer Frau, die das Leben noch vor sich hatte.
Kaum eine Vorstellung hat die Dichterherzen der vaterländischen Historiker seitdem mehr bewegt als die des traurigen Siegers, der von der feierlichen Erneuerung der alten Ordnung kam, für die Luise sich geopfert hatte, und seinen Lorbeerkranz nun auf ihr Grabmal legte.
Gleich wie es einer Frau zum letzten Mal vergönnt war, im Licht der Moderne eine Heilige zu werden, so sollte es einem Kunstwerk letztmalig gelingen, zur Ikone zu werden, zum magischen Objekt. Hunderttausende besuchten und berührten jene Grabstatue, zumal die marmorne Luise alsbald an die Stelle der historischen getreten war. Dass Luise „statuenschön" gewesen sei und von „hellenischem Geist" erfüllt, dass sie „alabasterweiß", ja wie „aus Marmor gebildet" auf dem Sterbebett gelegen habe, konnte man allenthalben lesen.
Viele Nationen suchen Verkörperung in einer Frau. Anziehend, mütterlich und kraftspendend, verlangte die Nation, was sie zugleich versprach: Liebe, Schutz, Geborgenheit. Kriegerdenkmale des späten 19. Jahrhunderts zeigten weibliche Personifikationen in verführerischer Gestalt, galt es doch, Soldaten anzuspornen, ihr Blut fürs Vaterland zu geben, wie sie es für ihre Mutter oder Geliebte auch vergießen würden. Luise, zur „wahren Germania" allegorisiert, war die erste dieser Frauen.
Doch während die Königin zur Mutter der deutschen Wiedergeburt wurde und ihr Mausoleum zum ersten Denkmal des politischen Totenkultes, enttäuschten Friedrich Wilhelm III. und sein Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm IV die Hoffnungen auf Einigkeit und Recht und Freiheit. Zwar erklärte der Sohn der Königin noch 1849, die Einheit Deutschlands liege ihm am Herzen, sie sei das Erbe seiner Mutter, doch hinderte ihn das nicht daran, die ihm von der Frankfurter Paulskirche angetragene Kaiserkrone als „Schweinekrone" zurückzuweisen. Zu sehr hing der Geruch der Revolution an ihr. Historiker wie Johann Gustav Droysen mochten sich noch so eifrig darum bemühen, die Hohenzollern durch Beschwörung ihrer Ahnen von ihrer nationalen Berufung zu überzeugen. Aber auch die „borussianische Legende" um Friedrich den Grossen konnte das Misstrauen der preußischen Könige gegenüber einer deutschen Kaiserwürde nicht schmälern.
Erst 1870 wendete sich das Blatt. Ein merkwürdiger Zufall der Geschichte wollte es, dass die französische Kriegserklärung, die den dritten Einigungskrieg einleitete, Preußen am 19. Juli erreichte, dem 60. Todestag Luises. Während Bismarck den Reichstag in Kriegstaumel versetzte, fuhr der greise König Wilhelm, der seinem kinderlosen Bruder 1861 auf dem Thron gefolgt war, zum Mausoleum seiner Mutter. Wie der Maler Anton von Werner die Welt später glauben machte, stand Wilhelm dort in stummer Andacht vor dem Bild der Frühverstorbenen, als ein Lichtstrahl auf ihr Haupt fiel, gleich so, als ob der Herrgott sie erwecken wollte. Der Allmächtige, so schien es, legte die Zügel von Wilhelms Schlachtross der Mutter in die Hand. Die Befreiungskriege gingen gleichsam in die zweite Runde, verkürzt auf eine Familienangelegenheit: die Rache des Sohnes an Napoleon III. dem Neffen des Mörders seiner Mutter. Der Krieg gegen Frankreich wurde zum Duell um die männliche und nationale Ehre. Als Wilhelm 1. am 18. Januar 1871 in Versailles die ihm von den deutschen Fürsten angetragene Kaiserwürde annahm, war das Erbe seiner Mutter endlich vollendet. Ihr Leben über den Tod hinaus geriet zum Gründungsmythos des Deutschen Reiches sowie zur historischen Legitimation des preußischen Führungsanspruchs. Die bürgerliche Begeisterung für die „Preußenmadonna" kannte kein Halten mehr und setzte einen Kult in Gang, der in der deutschen Geschichte ohne Beispiel ist. Ungezählte Strassen und Plätze, Parks und Berge, Kirchen und Schulen, ja selbst Kriegsschiffe trugen den Namen der „edelsten Frau der deutschen Geschichte". Ihr Todestag wurde als Königin-Luise-Tag zu einem Familienfest für Millionen, mit Kranzniederlegungen von Veteranenverbänden bis zu Frauenschwimmvereinen.
Eine Königin verkörperte den Sieg des Bürgertums wie auch der Hohenzollernmonarchie, doch wich nach 1871 der einst progressive Gehalt ihres Mythos dem Erhalt von konservativen Werten. In Zeiten, in denen das Schreckgespenst der politischen Frau zu spuken begann, diente die Königin nicht etwa der Emanzipationsbewegung, sondern dem Gegenteil: einer starren Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Luise wurde immer häuslicher. Dass ihr Eingreifen in die Politik nur aus der Not geboren war, dass die „königliche Dulderin" aus nationalem Instinkt und Gefühl gehandelt hatte, nicht aus Verstand, lernten ganze Generationen in der Schule. „Lerne weinen ohne zu klagen", schrieb die preußische Offizierstochter Marlene Dietrich kurz vor ihrem Tod 1992. „Königin Luise von Preußen schrieb dies auf der Flucht an die Wand.
„Mehr als von der Verleumdung ihrer Feinde hat sie von der Phrasenhaftigkeit ihrer Verherrlicher zu leiden gehabt", schimpfte Theodor Fontane, doch änderte das nichts an der Hochstimmung, die noch die Nationalsozialisten zu schüren verstanden. Als Luise jedoch 1945 im letzten und subtilsten Durchhaltefilm des Hitlerreiches, Veit Harlans „Kolberg", vor die Deutschen trat, fehlte diesen längst die Kraft für Illusionen. „So wollen sie uns schmackhaft machen", schrieb ein Zeitgenosse, „dass wir hier verheizt werden!"
Die populärste aller Preußenköniginnen ist Luise bis auf den heutigen Tag geblieben. Unberührt von allen Kriegen, unbeschadet von der so anrührenden wie monströsen Verklärung ihrer Person, steht ihre Sarkophagfigur noch heute in Charlottenburg. Blumen liegen ihr zu Füssen.
Der Verfasser ist Kunsthistoriker an der FU Berlin. Dieser Artikel erschien in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" am 6. November 2003.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Ich freue mich über alle Kommentare. Bitte halten Sie sich aber an die Netiquette - keine rassistischen, sexistischen oder sonstwie diskriminierenden Äußerungen. Auch Militaristen haben hier ausdrücklich kein Forum. Falls Sie der Ansicht sind, ich wäre a. blöd b.hässlich oder c. beides, behalten Sie das bitte für sich. Es interessiert hier niemanden. Versuchen Sie, inhaltlich relevante Kommentare, die die Diskussion zum Thema voran bringen und das Thema erhellen, abzugeben. Ich behalte mir vor, Kommentare zu kürzen oder zu löschen und weise darauf hin, dass die in Kommentaren geäußerten Ansichten nicht unbedingt meinen eigenen entsprechen.