Mittwoch, 7. November 2012

Wo ist eigentlich Europa? (Teil 3)

Grundsätzlich gab es an unserem Teil der Humboldt-Uni mehrere Möglichkeiten, den geistigen Horizont in Richtung Osten auszuweiten. Da waren die Beziehungen der staatlichen Leitung der Sektion mit fünf wissenschaftlichen Hochschulen und Instituten der Sowjetunion, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei. Einzelne Wissenschaftsbereiche unterhielten zudem Partnerbeziehungen mit anderen Instituten im sozialistischen Ausland.

Denkmal von Zarin Katharina II. in Odessa  (© fv 2012)  
Neben dem wissenschaftlichen Austausch zwischen den Professoren und Mitarbeitern  bestand meist auch die Möglichkeit, Studenten zu Praktika oder Aspiranturen an die Partnerinstitutionen zu schicken. Außerdem gab es die Partnerbeziehungen auch zwischen den jeweiligen Jugendorganisationen, also z.B. zwischen FDJ und Komsomol. Während der Studentenaustausch über die Wissenschaftsbereiche in der Regel vor allem aus Betriebsbesichtigungen und touristischem Programm bestand, wurde im sogenannten Studentensommer zunächst gearbeitet. Mit dem verdienten Geld finanzierte man dann einen anschließenden touristischen Teil der Reise. So war ich selbst im Jahre 1975 zum Studentensommer in Bratislava, der heutigen Hauptstadt der Slowakischen Republik. Irgendwo in der Nähe  des Fernsehturms liegen sicher noch von mir und einigen Kommilitonen der Humboldt-Uni verbuddelte Kabel , die zwei neue Wohnhäuser an das Elektronetz anschließen sollten.Wir lernten die wichtigsten slowakischen Wörter, die man so auf dem Bau braucht. Wichtige Wörter wie "Pausitschka" und "jedno pivo"  sind mir heute noch geläufig.

DDR-Touristen in der damaligen CSSR waren meist chronisch klamm, d.h. man konnte nur wenige DDR-Mark pro Tag in tschechische Kronen umtauschen. Durch unseren Lohn waren wir in der Lage, abends auch mal einen schönen Weinkeller zu besuchen oder ein paar Schallplatten zu kaufen. Trotzdem reichte das Geld auch noch für eine einwöchige Tour durch die Hohe Tatra und Prag. Ein Eindruck für's Leben.

Im Sommer 1976 bestand für 8 Studenten die Möglichkeit, an einem Studentenaustausch mit dem Kältetechnischen Institut in Odessa teilzunehmen. Zunächst kamen 8 Studenten und zwei wissenschaftliche Mitarbeiter aus Odessa nach Berlin. Hier wurden sie 4 Wochen lang  von uns, die wir anschließend mit ihnen nach Odessa fahren wollten, betreut. Betriebe wurden besichtigt, wir fuhren mit den sowjetischen Studenten nach Sanssouci und nach Dresden. Die anschließende dreitägige Bahnfahrt über Kiew nach Odessa war allein schon ein Erlebnis. Der große Samowar unseres Liegewagens wurde regelmäßig von uns leer getrunken und leider waren die mitgebrachten Alkoholvorräte schon in Warschau alle. Tja, wir hatten zwar keinen "Fun", aber eine Menge Spaß.

In Odessa dann zunächst Betriebsbesichtigungen unter anderem  in einem Werk für Kindernahrung, einer Kaffeerösterei, einer Fabrik für Cornflakes und Erdnussflips sowie einer Speiseeisfabrik. Wir waren erstaunt, dass hier mit den neuesten Maschinen produziert wurde.Und wir lernten die Produkte zu lieben. Vor allem das sahnige Speiseeis war lecker. Der starke Eiskaffee im Büro des Chefs der Kaffeerösterei schmeckte an einem heißen Tag so gut, dass wir anschließend fast eine Koffeinvergiftung hatten.

Nach der täglichen Firmenbesichtigung ging es an einen der vielen Strände am Schwarzen Meer. Abends wurde mit den Studenten aus Odessa  gefeiert. Tauchen nach Miesmuscheln und anschließender Zubereitung der frischen Muscheln am Strand, Fete auf einer Professoren-Datscha in Bolschoi Fontan, Estradenkonzerte eines großen Orchesters mit einem Repertoire  von James Last bis Herb Alpert, Konzerte im Stadtpark, Besuch der großartigen Oper - die Russen und Ukrainer hier in der Sowjetunion leben, lieben, lachen und arbeiten wie wir. Da wir in der DDR eigentlich nur uniformierte Russen kennen lernen können, ist diese Erkenntnis selbst für uns gelernte DDR-Bürger einigermaßen neu. Jahre später, auf dem Höhepunkt der Reagan-Jahre und der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa, wird der britische Sänger Gordon Matthew Thomas Sumner, bekannt als Sting, einem ähnlichen Gefühl Ausdruck geben:


There's no such thing as a winnable war
It's a lie we don't believe anymore
Mr. Reagan says we will protect you
I don't subscribe to this point of view
Believe me when I say to you
I hope the Russians love their children too.


Und sie lieben ihre Kinder: Niemals habe ich ihre Kinder anschreiende Mütter oder tobende und schlagende Väter gesehen. Allerdings auch keine kreischenden Kinder wie später im Westen.

Besonders beeindruckend war der Kurztrip nach Jalta mit dem Kreuzfahrtschiff "Grusia". Der noble Dampfer war 1975 in Finnland vom Stapel gelaufen, hatte zwei Swimmingpools, drei Bars und zwei Restaurants. Wir schifften uns am Abend ein und lagen am nächsten Morgen auf Reede vor Jalta. Jalta war überwältigend. Allerdings ging es schon am Abend mit der "Grusia" zurück. Die dreieinhalb Wochen in Odessa vergingen wie im Fluge, drei Tage Kiew folgten, bevor es dann wieder zurück nach Hause ging.

Im Jahre 1979 konnte ich dann noch einmal als Betreuer mit einer Studentengruppe nach Odessa fahren. Die Eindrücke beider Reisen waren kollossal und haben mich dermaßen berührt, dass ich nach 33 Jahren unbedingt wieder nach Odessa wollte.

Von den Eindrücken dieser erneuten Reise in einen ganz anderen Teil Europas kann der interessierte Leser demnächst in diesem Blog lesen...



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